- Medizinnobelpreis 1944: Joseph Erlanger — Herbert Spencer Gasser
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Die beiden amerikanischen Neurophysiologen wurden für ihre Entdeckungen über die hochdifferenzierten Funktionen der einzelnen Nervenfasern ausgezeichnet.BiografienJoseph Erlanger, * San Francisco 5. 1. 1874, ✝ St. Louis 5. 12. 1965;ab 1899 klinische Tätigkeit, 1900 Wechsel in die Physiologiean der Johns Hopkins School of Medicine in Baltimore, 1906University of Wisconsin in Madison, seit 1910 Leitung des Department of Physiology an der Washington University in St. Louis.Herbert Spencer Gasser, * Platteville (Wisconsin) 5. 7. 1888,✝ New York 11. 5. 1963; Medizinstudium an der University of Wisconsin, Abschluss 1915, ab 1921 Professor für Pharmakologie an der Washington University, 1931 Professor für Physiologie an der Cornell University, 1935-53 Direktor des Rockefeller Institute for Medical Research.Würdigung der preisgekrönten LeistungBereits 1912 hatte der deutsche Elektrophysiologe Julius Bernstein die akkurate Aufzeichnung der winzigen Ströme einzelner Nerven mit einer Elektronenstrahlröhre gefordert und als fantastische Zukunftshoffnung verworfen. Doch schon genau ein Jahrzehnt später publizierten die beiden amerikanischen Neurophysiologen Joseph Erlanger und Herbert Gasser Fotos solcher Kathodenstrahl-Schirmbilder von Nervenströmen. Lange vor der Erfindung des Fernsehens war die Neurophysiologie damit ins Bildschirmzeitalter getreten.Bilder von ElektronenströmenNach Ende des Ersten Weltkriegs hatten Erlanger und Gasser begonnen, die neue Technik der Vakuumröhrenverstärkung, wie sie auch im Radio verwendet wurde, im physiologischen Labor für die Aufzeichnung von bioelektrischen Signalen zu nutzen. Zunächst konnten aber selbst mit solchen verstärkten Nervenströmen nur Saitengalvanometer betrieben werden, die wegen ihrer Trägheit keine genaue Analyse der sehr schnellen Nervenaktionspotenziale zuließen. Erst zufällige persönliche Kontakte zu Physikern in der elektrotechnischen Industrie, durch die die Neurophysiologen von aktuellen Weiterentwicklungen der Röhren- und Oszillographentechnik erfuhren, ließen ab Anfang der 1920er-Jahre ein neues und revolutionäres Aufschreibesystem für bioelektrische Signale entstehen: die Verbindung der Vakuumröhrenverstärkung elektrischer Signale mit der Kathodenstrahl-Oszillographie. Auch wenn die Bilder der Elektronenströme auf den Bildröhren damals ebenso flüchtig wie die Nervenaktionspotenziale selbst blieben und nur ihre permanente Wiederholung ein stehendes Bild der Erregungskurve ergab, das sich dann vom Bildschirm per Hand abzeichnen oder durch wiederholte Belichtung fotografischer Platten speichern ließ, so war mit Erlanger und Gassers System doch das Prinzip der heutigen Registriertechnik für bioelektrische Signale realisiert. Wenn raffiniertere Techniken heute eine elektronische Datenverarbeitung und Speicherung erlauben, so sind doch elektronische Verstärkung und Kathodenstrahl-Oszilloskop die Basisinstrumente der Neurophysiologie geblieben.Unterschiedliche NervenfasernDass Nervenzellen über ihre meist sehr langen Fasern elektrische Impulse senden, war im Prinzip schon seit den spektakulären Froschversuchen des italienischen Arztes Luigi Galvani Ende des 18. Jahrhunderts bekannt. Durch Berührung des Beinnervs mit bestimmten Metallen konnte er eine Muskelzuckung auslösen. Die Präparation eines Froschbeins mit freiliegenden Nerven diente im 19. Jahrhundert sogar als besonders empfindliches Strommessgerät, das über die Zuckung des Froschschenkels kleinste elektrische Ströme nachweisen konnte, die damalige elektrotechnische Apparaturen längst nicht in Bewegung brachten. Dem deutschen Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz war es Mitte des 19. Jahrhunderts als Meilenstein der Elektrophysiologie gelungen, die Erregungswelle des großen Beinnervs mit seinen Instrumenten als eine geschwungene, glatte Kurve darzustellen und daraus die Geschwindigkeit der Signalleitung zu berechnen.Als Erlanger und Gasser mit ihrer neuen Registriertechnik eine solche Erregungswelle eines Nervs aufzeichneten, fanden sie statt der geschwungenen Linie eine vielzackige und unregelmäßige Kurve. Vor allem, wenn sie den Nerv mit einem eher schwächeren Impuls reizten, der gerade an der Auslöseschwelle für Nervenaktionspotenziale lag, oder wenn sie die Impulse weit entfernt von stimulierten Stellen am Nerv ableiteten. Erst durch viele weitere Studien, zum Teil zusammen mit George Bishop und anderen, gelang ihnen, durch geschickte Experimentalstrategien Ordnung in das Dickicht der verschiedenen Aktionspotenzialkurven zu bringen. Die komplexen Kurven waren nicht Abbild in sich unregelmäßiger Nervenentladungen, sondern erwiesen sich als Überlagerung der Erregungswellen verschiedener Nervenfasern: Dicke Nerven mit starker Nervenscheide aus Myelin zeigten eine schnellere Nervenleitung als dünne, nicht myelinisierte Fasern. Nerven mit rein motorischer Funktion zeigten auch oszillographisch eine einheitliche Kurve, während gemischt motorisch-sensible oder sensorische Nerven bei Stimulation die komplexen Kurven produzierten.Die drei HaupttypenAus dieser Kombination anatomisch-morphologischer und neurophysiologischer Befunde entwickelten Erlanger und Gasser die bis heute übliche Unterteilung der Nervenfasern in drei Haupttypen A bis C. Ein Unterscheidungskriterium stellte die abnehmende Nervenleitgeschwindigkeit dar, die von 5-100 Meter pro Sekunde in Gruppe A zu unter zwei Meter pro Sekunde in Gruppe C reichte. Zusammen mit der Nervenleitgeschwindigkeit variierten zwischen den verschiedenen Fasertypen, wie sich in weiteren Versuchen herausstellte, noch viele andere Parameter der Nervenaktionspotenziale, wie deren Größe, die Anstiegsgeschwindigkeit, die Dauer, die Erregungsschwelle zur Auslösung eines Aktionspotenzials, die Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel oder Pharmaka. Alle diese Details waren erst mit der neuen elektronischen Darstellungstechnik für Nervenaktionspotenziale in der Kombination von Vakuumröhrenverstärkung und oszillographischer Visualisierung beschreibbar geworden. Galten Nerven bis dahin als biologische Äquivalente von Elektrokabeln, war nun aus ihnen ein komplexes System von Leitungsbahnen mit unterschiedlichem Leitungsverhalten geworden.Helmholtz' Schlussfolgerung war gewesen, dass nicht die spezifische Qualität des Nervenimpulses die jeweilige Sinnesqualität codiert, sondern allein die Frequenz eines Signals und seine räumliche Verteilung im Nervensystem. Erlanger und Gassers Studien zeigten dagegen, dass zusätzlich eine hochgradige Differenzierung der Nervenaktionspotenziale selbst vorliegt. Einzelne Sinnesqualitäten werden über mehrere, verschieden schnelle Nervenfasern vermittelt, andere müssen sich nahezu identische Fasern teilen. Der funktionelle Gewinn dieser Differenzierung ist bis heute nicht völlig aufgeklärt. Vermutlich liegt er in einer zeitlichen Integration und Koordination der permanent in das zentrale Nervensystem gelangenden und von ihm ausgesandten Nervenimpulse.C. Borck
Universal-Lexikon. 2012.